Der Begriff „Storytelling animal“ wurde besonders durch Jonathan Gottschall bekannt, der ihn als Titel seines Buches „The Storytelling Animal: How Stories Make Us Human“ (2012) verwendete. In diesem Werk untersucht Gottschall, wie und warum der Mensch von Natur aus eine starke Neigung zum Erzählen und Erleben von Geschichten hat. Unser geistiges – virtuelles Leben – besteht aus einem vernetzten, traumähnlichen, Gespinst von Annahmen über uns und die Welt. Wir sind gewohnt, dieses kollektive Virtuelle als Kultur zu bezeichnen, ein Gespinst aus kanonisierten Ideen, Werten, Zielen. Kultur erwächst aus dem kollektiven Gedächtnis (Halbwachs), bestehend aus dem kommunikativen und kulturellen Gedächtnis (Assmann), den Erinnerungsorten, Gedächtnisgemeinschaften (Nora), Erinnerungskulturen,.. Wir werden von früh an mittels Geschichten, Mythen der mythologischen Systeme in unsere Kultur eingewoben.
„Mythen sind öffentliche Träume, Träume sind private Mythen… Ein Mythos ist ein Kontrollsystem, das einerseits seine Gemeinschaft in Übereinstimmung mit einer intuitiven Ordnung der Natur einrahmt und andererseits durch seine symbolischen und pädagogischen Riten, die Individuen durch die unausweichlichen psychophysiologischen Stadien der Transformation eines menschlichen Lebens führt.“ (Joseph Campbell) Wir sind darin aufgewachsen, hineingewachsen, herausgewachsen… sind identifiziert, im positiven oder negativen Sinne, sicher oder ambivalent. So leben wir in dieser Matrix (S. H. Foulkes) und spüren deren Kraftfelder (Geschichten) vorrangig als Affekte. Unsere evolvierten sog. Abwehrmechanismen sind letztlich wie ein psychisches Immunsystem ständig aktiv in der Auseinandersetzung mit diesen kommunikativen Kräften. Unser Identifiziertsein ist nichts anderes, als ein relativ zeitstabiles affektiv-kognitives Konstrukt, das mittels verinnerlichter Geschichten, die Gemeinschaft zusammenhalten kann, soll, muss. Ständig stehen wir in Konflikten, die uns andeuten, dass wir Entscheidungen, Willensakte zu treffen haben. Der Kognitionswissenschaftler Mark Turner meint, dass „der größte Teil unserer Erfahrung, unseres Wissens und unseres Denkens in Form von Geschichten organisiert ist“. Für ihn ist „das narrative Vorstellungsvermögen – die Geschichte – das grundlegende Instrument des Denkens. Rationale Fähigkeiten hängen davon ab. Die Geschichten sind unser wichtigstes Mittel, um in die Zukunft zu blicken, sie vorauszusagen, zu planen und zu erklären. Es ist eine literarische Fähigkeit, die für die menschliche Erkenntnis im Allgemeinen unverzichtbar ist“. Ständig sind wir genötigt, uns zwischen möglichen Zukunftsentwürfen zu entscheiden. Geschichten werden in die Zukunft entworfen, den Entwürfen folgen wir, oder nicht, oder bleiben in Ambivalenzen, -tendenzen hängen …Geschichte ist fiktiv und wird zugleich faktisch. Sie liefert unser Realitätskonzept. Mythos – Wissenschaft – Fiktion – Poesie – Kunst, und sie wird zu unseren Lebensgeschichten, Biografien.
In unseren Behandlungen gehen wir wie selbstverständlich von Ideen, Grundannahmen, Hypothesen, Intuitionen, gemeinem Alltagsverstand bzw. gesundem Menschenverstand, von Lebenserfahrungen, Überzeugungen, affektiven Valenzen (Gegen-/Übertragungen) aus. Alles erdachte, erlebte, un-/erwünschte Geschichten; Geschichten die vielfach leidvoll durchlebt und gestaltet wurden. Unsere Aufgaben (Anteilnahme, emphatische Offenheit, Spiegelungen, Konfrontationen, Deutungen etc.) dienen nicht zuletzt dazu, bessere Geschichten mit unseren Patienten und Klienten zu erfinden, Geschichten, die ihnen helfen, sich, ihr Leben, ihre Geschichte neu erleben und gestalten zu können.
Dr. med. Klaus-J. Lindstedt
Seminar: 3 UE, Präsenzveranstaltung, TP/AP, alle